
„Lass uns doch mal wieder eine Bergtour machen“ meinte eine Bekannte, „wird Zeit, dass wir uns wiedersehen“. Ich sagte zu und hatte richtig Lust auf frische Luft, Bewegung und Gedankenaustausch. Wir waren einige Stunden unterwegs und meine Begleiterin erzählte von sich, ihren Plänen, ihrer Familie, ihrem Leben und, und, und… Zu Hause angekommen war ich genervt und fühlte mich innerlich irgendwie leer. Dialog und Austausch, ein Miteinander, darauf hatte ich mich gefreut. Was stattfand war ein Monolog, in dem ich die Rolle des Statisten übernahm! Kennst du solche Situationen auch? Warum ist das so? Und wie können wir das ändern?
Die Wissenschaftsjournalistin Kate Murphy hat 2020 in ihrem Buch mit gleichnamigem Titel das Phänomen des Zuhörens untersucht. Aus monatelanger Recherche und vielen Interviews kristallisierte sich die Erkenntnis heraus: „Wir glauben, dass wir Gespräche führen und dominieren müssen. Dass im Leben nur erfolgreich ist, wer gut erzählen, Menschen überzeugen und seinen Standpunkt durchsetzen kann. Ganz nach dem Motto: Wer am lautesten schreit, wird gehört“ (1). Stimmt das wirklich? Oder ist das „laute Schreien“ eher ein Zeichen von Gehörtwerdenwollen, ein Hilferuf nach Aufmerksamkeit? Ein Defizit an Empathie?
In Deutschland hat die Zahl der sich einsam fühlenden Menschen in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Der Verzicht auf persönliche Begegnungen durch Lockdown-Beschränkungen und Homeoffice während der Corona-Pandemie ist eine der Ursachen. Studienergebnisse belegen eine weltweite Vereinsamung insbesondere von Jugendlichen und jungen Erwachsenen sowie Menschen im hohen Alter. (3)
Prof. Dr. Luhmann, einer der führenden deutschen Einsamkeitsforscher, definiert Einsamkeit, in Anlehnung an Peplau/Perlman (1982), als „eine wahrgenommene Diskrepanz zwischen den gewünschten und den tatsächlichen sozialen Beziehungen“. Dabei ist die Qualität der sozialen Beziehungen wichtiger als die Quantität (Hawkley et al., 2008). (4)
„Weil wir uns nicht zuhören, leidet die Qualität unserer sozialen Kontakte. Machen wir so weiter wie bisher, hätte das eine kollektive Vereinsamung der Gesellschaft zur Folge“ – so der Schweizer Psychotherapeut Andi Zemp. (1)
„Wie geht es dir?“. In den USA Ersatz für „Hallo“ bei jeder Alltagsbegegnung. Auch im geschäftlichen Kontext ist damit keine Erkundigung nach dem Wohlbefinden des Gegenübers gemeint. Diese „Frage“ fungiert eher als Eisbrecher-Phrase und zugleich freundliche Einladung zum Gespräch.
„Wie geht es dir?“. Die digitale Kommunikation hat besonders im privaten Kontakt zu einer inflationären Nutzung dieser Interessenbekundung geführt. Wollen wir wirklich wissen, wie es dem Menschen gegenüber geht? Sind wir mit voller Aufmerksamkeit da, wenn er oder sie antwortet? Hören und sehen wir die feinen Nuancen in Mimik und Gestik, die nicht zum „Danke, gut!“ passen? (2)
Facebook, Insta, Tiktok und Co. – Social Media hat uns fest im Griff. Mit Kopfhörer im Ohr und Handy in der Hand surfen wir unzählige Stunden am Tag auf diesen Plattformen. Um nur keine Langeweile aufkommen zu lassen, bietet Netflix die perfekte „Betäubung“ zum Tagesausklang. Wenn wir wissen wollen, wie es uns geht – voilà – die Smartwatch sagt es uns.
Wann kommst du zur Ruhe, bist ganz bei dir? Nicht im Gestern oder schon im Morgen. Sondern im Hier und Jetzt. Nimmst deinen Körper, deine Gefühle, deine Umgebung bewusst mit allen Sinnen wahr. Ohne zu bewerten. Ohne Ablenkung.
Wahrnehmung ist die Basis des Zuhörens. Und sie beginnt bei uns selbst. Kreiere dir so viele Momente wie möglich, in denen du bewusst im Hier und Jetzt bist. Ohne Abschweifen der Gedanken. Ohne Multitasking. Ohne virtuelle Welt. Ohne Handy.
Der indische Philosoph Jidda Krishnamurti meinte, dass “beobachten, ohne zu bewerten“ die höchste Form menschlicher Intelligenz sei. Dabei dient Bewertung dem Leben und dem Überleben. Ohne sie, wären wir in Gefahrensituationen nicht handlungsfähig.
Wenn wir unserem Bewertungsdrang immer und jederzeit freien Lauf lassen, so ist das nicht förderlich für Begegnung und Konversation. Wir kategorisieren das Gehörte vorschnell in richtig oder falsch, gut oder schlecht, dumm oder klug usw. Drücken unseren individuellen „Wertungs-Stempel“ auf. Verpassen Chancen, Neues dazuzulernen oder verinnerlichte Denkmuster zu verändern.
Eine wichtige Erkenntnis kann also sein, dass wir uns bewusst entscheiden können, beim Zuhören die Brille unserer Bewertung abzulegen. Und das eröffnet völlig neue Erfahrungsräume für Erzähler und Zuhörer.
Menschen verbinden. Aus dieser Vision heraus kreierte der Münchner Michael Spitzenberger 2020 die Idee des Zuhörraums. Einem geschützten Ort des Zuhörens, in dem Zeit, Wertschätzung und Gemeinsamkeit geschenkt werden.
In einem gemütlichen 75m3-Tiny House in München haben sich Ehrenamtliche zusammengefunden, um zuzuhören. Jeder Geschichte. Jeder Freude. Jedem Kummer. Jedem Menschen. Kostenlos, vertraulich, anonym, ohne Ratschläge und bewertungsfrei.
Die gemeinnützige Initiative „momo hört zu“ setzt sich für eine Zuhör- und Wertschätzungskultur in Deutschland ein. „Wichtig ist die innere Haltung, aus der wir einander begegnen“ – so Michael Spitzenberger. „Was wir brauchen, sind Keimzellen der Menschlichkeit“. (5)
Wir Menschen dürsten förmlich danach, wahrgenommen und angenommen zu werden. Nicht aufgrund besonderer Leistung, sondern um unser selbst willen. Gehört werden tut gut. Gibt ein Gefühl der Verbundenheit. Man fühlt sich nachher besser als vorher. Beschenkt.
Der Zuhörraum. Ein Pilotprojekt in München, das in jeder Stadt, in jeder Kommune Nachahmer braucht, um Wege aus der Vereinsamung zu schaffen und ein friedliches Miteinander zu fördern. Weitere Infos unter https://www.momohoertzu.de/
Die Prinzipien des aktiven Zuhörens gehen auf verschiedene Modelle aus Kommunikationswissenschaft und Psychologie zurück. Der Psychologe Carl Rogers hat das Modell des aktiven Zuhörens maßgeblich geprägt. Vorurteilsfreie und empathische Aufmerksamkeit ist die Haltung des Zuhörenden. Ohne Bewertung oder Ratschläge.
Das gilt für jede Gesprächssituation, geplant oder spontan. Genauso auch für die Themen: Es kann um ein aktuelles oder länger bestehendes Problem gehen. Oder nur der Wunsch nach verbalem Ausdruck von Freude über eine bestandene Prüfung sein. Wie schön ist es, einfach nur jemandem erzählen zu können, wie der Tag war.
Das aktive Zuhören ist eine Quelle von Möglichkeiten und Geschenken für beide Seiten: Vertrauen kann wachsen und Verbindung gestärkt werden. Besonders durch das Nicht-Bewerten eröffnen sich neue Erkenntnisräume, Verständnis und Mitgefühl für die Vielfalt der menschlichen Erfahrungen und Wahrheiten.
(1) blick.ch
(2) stuttgarter-nachrichten.de
(3) barmer.de
(4) kompetenznetz-einsamkeit.de
(5) momohoertzu.de
(6) swrfernsehen.de
(7) stepstone.de
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